Indice

Gäste
Cesare Musatti, Reisegefährte
Elvio Fachinelli, freier Lehrer
Freud im Bellevue
Von Buenos Aires nach Klobenstein
Klobenstein in Buenos Aires
pag. 3
Göttlich schöner Ritten
Klobenstein, ein wiederentdeckter Ort
Anna, Adam und die Wollkatze
Ferenczi und Rank in Klobenstein
Die Geranien
Die Hefte und die Freud-Woche
25
Totem und Tabu
Der Mythos der Ursprünge
Claude Lévi-Strauss
Die Inzestscheu
Die infantile Wiederkehr des Totemismus
Vorrede zur hebräischen Ausgabe
Der Jude Sigmund
43
Dort schritten wir hinaus/zu schaun die Sterne
Von Wien, die Reisen
Winkelmann, Goethe, Freud
Freud von Köln, ein Vorfahr?
Abenteuer am Gardasee
Der Cavaliere, das Fiat-Automobil und die Angst vor den Automobilen
Ein unveröffentlichter Brief Freuds vom Karersee
61
Traum des Traums
Gradiva, die schreitende
Blaue Ferne
Die Psychoanalyse, ein offenes Werk
Moses, der unruhige Geist
Wien, Ort der Abreise und Rückkehr
75
Hundert Jahre "psychanalyse" 87
Anhang  
Skizzen für ein Porträt 93
Kurze Chronologie: Leben und Reisen (1856-1923) 97
Bibliographie 107

Göttlich schöner Ritten Klobenstein am Ritten

Hotel Post – Tirol - 20. August 1911

<<Ich will bis zum 14. September hier bleiben , wo es in ganz besonderer Art schön ist […] seitdem meine Geisteskräfte wieder erwacht sind, arbeite ich auf einem Gebiet, wo Sie überrascht sein werden, mich zu treffen. Ich habe sonderbare unheimliche Dinge aufgewühlt und werde beinahe verpflichtet sein, mit Ihnen nicht darüber zu reden. [...] Ferenczi erwarte ich gerade heute als Gast für längere Zeit.

Mit herzlich freundschaftlichem Gruß aus frohem Sinn

Ihr Freud>>
(Brief an C. G. Jung1)



1003 Seestrasse
29. August 1911
Küsnach - Zürich

<<Lieber Herr Professor,

Sie haben mir mit Ihrem Briefe eine große Freude gemacht. [...] Sie haben mich durch Ihren Brief aber auch arg auf die Folter gespannt, denn es glückt meinem "Scharfsinn" nicht ganz, hinter Ihre Rätselkulissen zu schauen. [...] Ich habe auch das Gefühl, daß diese Zeit voll Wunder sei, und wenn die Auspizien nicht trügen, so dürften Sie wohl recht haben, daß wir tatsächlich dank Ihrer Entdeckungen, vor etwas sehr Großartiges gestellt sind [...]

Mit vielen herzlichen Grüßen
Ihr ganz ergebener Jung>>
(Brief an Freud2)


Klobenstein
1. September 1911

<<Lieber Freund!

[...] Mein Arbeiten in diesen Wochen auf das nämliche Thema bezog wie Ihres, auf den Ursprung der Religion. [...] Ihr Brief kam an einem schönen glücklichen Tag und hat die Stimmung noch weiter gehoben. [...] Ihr liebenswürdiger Wunsch, ich sollte schon am 15. bei Ihnen sein, ist unerfüllbar, ist schon vor 25 Jahren unerfüllbar geworden. [Die silberne Hochzeit von Sigmund und Martha Freud fiel nämlich auf den 14. September] [...] Hier auf dem Ritten ist es göttlich schön und behaglich.

Ich habe eine unerschöpfliche Lust zum Nichtstun, temperiert durch zweistündige Lektüre in neuen Dingen, bei mir entdeckt und mag nicht daran denken, daß der nächste Monatsanfang wieder die schwere Arbeit bringen soll. [...] Auf Wiedersehen!

Ihr getreuer Freud>>
(Brief an C. G. Jung3)



Klobenstein, ein wiederentdeckter Ort

Der Ritten ist nicht nur ein touristischer Ort, sondern viel mehr ein Ort der Sommerfrische: Der Ausdruck "Sommerfrische" scheint gerade im Zusammenhang mit dieser Gegend geprägt worden zu sein. Die Geschichte bezeugt ja, daß im 17. Jahrhundert von Eberschlager, der damalige Bürgermeister von Bozen, beschloß, auf dem Rittner Hochplateau ein kühles ruhiges Haus erbauen zu lassen, um sich der Hitze der Stadt zu entziehen. Die mehr oder weniger edlen Nachahmungen dieser Tat sind dann zahlreich geworden und setzten sich heute noch glücklich fort, sodaß 1907 die Zahnradbahn (Bozen-Oberbozen-Ritten) eingeführt und dann die bequeme Straße (1971) gebaut wurde, die vom Talboden zu den Bergen hinauf steigt. Die bedeutsamste Darstellung der "Sommerumzüge" bildet eine Tafel des Südtiroler Malers A. Stolz, in der die Penne, ein großer ovaler Korb, der voll von Haushaltsgeräten und ... Kindern ist, hervortritt: Er ist an Baumstämmen befestigt und wird von mächtigen Ochsen an einem steilen Abhang entlang hinaufgezogen. In den Büchern4 von D. Grieser - Im Rosengarten - und von I. Hosp - Ritten, Land und Leute am Berg - sind Gestalten, Stimmungen und Geschichten fein dargestellt.

Wie gelangt aber Sigmund Freud nach Klobenstein? In einem Brief5 an Carl Gustav Jung schreibt er: <<[für den nächsten Sommer] brauche [ich] dazu einen Raum, in dem ich allein sein kann, und einen Wald in der Nähe.>> (Februar 1911)

Zusammen mit seinem Schüler und Freund Sandor Ferenczi verläßt er Wien vor Ostern, am 14. April, und zwar an einem Freitag, und macht einen kurzen, nur sechstägigen Ausflug in der Umgebung von Trient und Bozen, um den erträumten Platz zu finden. Am Freitag, dem 14. April reist er morgens von Wien ab, wohin er am folgenden Donnerstag zurückkehrt. Ihn begleitet S. Ferenczi, und seine Suche wird sehr erfolgreich sein.

So verläßt Freud am 9. Juli Karlsbad, wohin er sich begeben hat, um sich von einer "amerikanischen Kolitis" zu erholen, und reist zu seiner Familie nach Klobenstein, einem kleinen Dorf auf der Rittner Hochebene in Südtirol, das von Bozen nicht weit entfernt ist.

Hier in Klobenstein, im Hotel Post, feiert das Ehepaar Freud seine silberne Hochzeit am 14. September 1911. Die Freude des Urlaubs wird also von Gefühlen und Liebe erfüllt.

Da das Klima ungewöhnlich warm ist, verzichtet die Familie darauf, nach Caldonazzo im Trentino zu fahren, was sie für Ende August geplant hatte, und sie bleibt in Klobenstein bis zur Rückkehr nach Wien in der dritten Septemberwoche. Freud reist seinerseits am 15. September nach Zürich ab, um dort C. G. Jung zu treffen.

Wie in den bereits erwähnten Briefen an Jung hat er E. Jones und S. Ferenczi ebenfalls mitgeteilt, daß er sich mit einer neuen Arbeit über die Religionspsychologie, über die "Fragen des Totems und des Tabus" intensiv beschäftigt.

Ludwig Binswanger vertraut er eine halbernste Befürchtung an6: <<Die Frequenz der Herrgötter hier in Tirol, wo sie ja zahlreicher sind als bis vor kurzem die Herren Pilger, hat mich zu religionspsychologischen Studien beeinflußt, von denen vielleicht nach Jahr und Tag etwas ans Licht kommen wird. Nach der Publikation werde ich wohl nicht wieder in Tirol eingelassen werden.>>

Totem und Tabu ist eine Arbeit, die er vor langer Zeit begonnen hat, davon zeugt auch ein anderer, im Februar des Jahres 1911 geschriebener Brief an C. G. Jung der optimistisch ankündigt7: <<Seit einigen Wochen gehe ich mit dem Keim einer größeren Synthese schwanger und will im Sommer damit niederkommen.>>

Und in Klobenstein schreibt er Die Inzestscheu, den ersten Aufsatz des Werkes, das den Titel Totem und Tabu trägt. Die Schwangerschaft wird jedoch länger als geplant dauern. Erst im Mai 1913 wird er sagen können, daß er sich "fröhlich und ruhig" fühlt, da er sich der "Arbeit über das Totem" entledigt hat.

Wie Gradiva8 (ein im Sommer des Jahres 1906 in Lavarone entstandener Beitrag) entsteht dieses Werk in einer glücklichen Ruhestimmung. Auf dem Ritten bieten die Wälder einen herrlichen Ausblick auf die ganze Dolomitenkette, auf Pässe und Gipfel, die er in seinen zahlreichen Reisen mehrmals erreichen wird, wobei er heitere Wanderungen in das Netz uralter Wege webt.

Die Ferien bilden für Freud auch eine einzigartige Gelegenheit, mit seiner ganzen Familie zusammen zu sein: mit Anna, die dank ihrer Hingabe an den Vater und ihrer geistigen Schärfe die Vertiefung und die Fortsetzung des väterlichen Erbes vollbringen wird. Es ist nämlich Anna, die den alten kranken Vater in Wien und dann in London begleiten und pflegen wird. Über die väterliche Gesellschaft freuen sich auch seine Söhne Ernst und Martin, seine Tochter Sophie und seine Frau Martha.

In seinen zahlreichen Aufenthalten in unserem Land hat Freud zweifelsohne einige der Sagen gelesen, die in großer Zahl an den Hängen9 der "bleichen Berge" oder auf dem Ritten, im Schatten der Erdpyramiden blühen. Die Nadeln, die Grate, die Zinnen, die einander abwechselnden Gipfel und Felsleisten haben seit jeher das volkstümliche Vorstellungsvermögen entfacht, in dem sie heute noch für Standorte von Zauberschlössern, magische Wohnstätten von Zwergen und Riesen, Rittern und Kobolden, Königen und Königinnen, geheimnisvollen und mythischen Wesen gehalten werden. Diese Sagen erzählen von Geistern, die in Orten zusammentreffen, in denen früher Ketzersekten verkehrten, von Zaubern und Zaubereien, von bösen Hexen, die während der Nacht mit dem Teufel tanzen und mit ihm Zauber und Opferriten anstiften.

Diese nächtliche Gespensterwelt hat sicherlich die Neugierde Freuds geweckt, der zweifelsohne bemerkt haben muß, wie sich die Phantasie mit der Benennung einiger Felsen beschäftigt hat, deren Formen so sonderbar sind, daß sie für eine Versteinerung böser Geister gehalten wurden, wie im Fall der "Mugoni-Spitzen" in der Rosengartengruppe (auf der Fassatal-Seite), der drei Zinnen, nämlich "dem Pater, dem Bären, dem Hexenmeister", oder der "Fünffingerspitzen" vom Saßlong.

Was die Hexen anbelangt, schreibt Freud10: <<Die Idee der Hexeneinbeziehung gewinnt Leben. Ich halte sie auch für zutreffend. Details fangen an zu wimmeln. Das "Fliegen" ist erklärt, der Besen, auf dem sie reiten, ist wahrscheinlich der große Herr Penis. Die geheimen Versammlungen mit Tanz und Amusements kann man alle Tage auf den Straßen, wo Kinder spielen, beobachten. [...] Die Geschichte des Teufels, das Schimpflexikon des Volkes, die Gesänge und Gebräuche der Kinderstube, alles gewinnt nun Bedeutung für mich.>> Und weiters betont er folgendes: <<Die Kinder, nachdem sie eine Bildung im sexualen Bereich erworben haben, benehmen sich noch lange wie kleine Primitiven, die zum Christentum bekehrt wurden und die aber in ihrem Inneren immer noch ihre alten Götzen anbeten.>>

Im vorher erwähnten Brief an L. Binswanger drückt Freud die Befürchtung aus, sein Werk Totem und Tabu könne seine Vertreibung aus Tirol bewirken. In Wirklichkeit bezieht sich diese Befürchtung nicht auf das Gesagte - sie bringt hingegen sein konstantes Besorgnis darüber zum Ausdruck, daß seine Entdeckungen ein günstiges Schicksal und eine allgemeine freundliche Aufnahme erfahren. Vielleicht ahnt er im Innersten, daß dieses in den Dolomiten erblühte Werk kühne Errungenschaften darstellen, jedoch auch heftige Proteste entfachen wird.


Anna, Adam und die Wollkatze

Im Sommer 1912 verlassen Freud und seine Familie Karlsbad (am 14. August) und ziehen ins Hotel Latemar am Karersee, wo sie bis Ende August bleiben, um dann ins Trentino zu fahren und sich dort im Hotel Seehof in S. Cristoforo am Lago di Caldonazzo aufzuhalten.

1913 hält sich die Familie Freud wieder in unserer Region auf, und zwar in San Martino di Castrozza, wo nach Arthur Schnitzler11 der Abend "köstlich" ist und <<die Luft ist wie Champagner.>> Freud bleibt dort nur drei Wochen, während sich seine Familie länger aufhält.

Ihrem Vater, der zum IV. Internationalen Psychoanalyse-Kongreß in München abgereist, und der dann mit seiner Schwägerin Minna nach Rom gefahren ist (10.-27. September) schreibt12 Anna Freud folgenden Brief:

J. Bemelmans - Grand Hotel Des Alpes
San Martino di Castrozza - Tirol


7.IX.1913

<<Lieber Papa!

Wir sind also noch immer in San Martino, denn heute wollte Hartungen Mama nicht fahren lassen und für morgen konnten wir keine Plätze bekommen.

So hoffen wir, endlich Dienstag in Klobenstein zu sein. Mama war die ersten zwei Tage wirklich recht elend und hat sich auch gestern nach Tisch nochmal bis Abend ins Bett gelegt. Ich habe mein Essen immer heraufbekommen und wir haben es uns noch so behaglich wie möglich gemacht.

Heute ist Mama ganz auf, aber noch gar nicht sehr fesch.
Ich glaube, Klobenstein wird ihr noch sehr gut tun.
Das Wetter ist noch immer sehr schön, nur am Nachmittag regnet es manchmal.

Gestern waren Hammerschlags da und kommen wahrscheinlich heute wieder. Hartungen hat Mama sehr gut behandelt.

Von Martin haben wir Nachricht, daß er bis zum 8. oder 9. in Riva bleibt. Auch von Sophie war gestern noch ein Brief, daß es ihr jetzt sehr gut geht und sie sich sehr wohl fühlt.

Unsere andere Post liegt wahrscheinlich in dem schönen Klobenstein und sonnt sich dort. Es geht uns hier aber sonst wirklich gut und wir entbehren nichts. Sogar eine "Neue Freie Presse" habe ich wieder erreicht. Herr Graetz bekommt sie nämlich immer noch, obwohl er längst fort ist und jeden Tag, wenn ich die Post hole, nehme ich sie mir, als ob es unsere wäre. […]

Den Käse, den Du von Dr. Abraham und Ferenczi bekommen hast, habe ich zum Teil aufgegessen und er war wirklich sehr gut. [...]

Ich hoffe, daß es Dir in München sehr gut geht und Du auch immer gut auf Dich achtgibst. Ich lasse den ganzen Kongreß schön grüßen. Hoffentlich hast Du Dich nach meinen Telegrammen ausgekannt, ausführlicher hat es Mama nicht mehr erlaubt.

Schreib mir bald, bitte, ich schicke Dir noch einen Kuß und bleibe

Deine Anna>>

Anfang September ist Freud in München, wo er am IV. Internationalen Kongreß teilnimmt, der mit dem Bruch mit Jung zusammenfällt. Aus Klobenstein schreibt Anna ihrem "Papa" wieder, um ihn über alles zu informieren, auch über ihre Wollkatze.

11.IX.1913

<<Lieber Papa!

Mama und ich sind eben von der sehr stinkenden Dependance in ein entzückendes Zimmer mit Loggia im neuen Haus übersiedelt.

Das Wetter ist noch dazu überraschend herrlich, Schnee auf den Bergen und bei uns die schönste Sonne.

Mama, die ich ja anfangs nur schwer bewegen konnte nicht direkt nach Hause zu fahren, hat schon gestanden, daß der heutige Vormittag am Eisackeck allein das Herauffahren wert war.

Wir sind wirklich sehr zufrieden und hoffen von Dir dasselbe.

Gestern haben wir von Dr. Hartungen aus San Martino einen Brief an Mama gehabt, er bedankt sich für das Geld und hat es also doch genommen, worüber sich Mama sehr freut. Mama ist jetzt wieder vollkommen beisammen, man sieht ihr gar nichts mehr an und wir machen sehr schöne Spaziergänge.

Die Brombeeren sind heuer leider noch nicht reif, obwohl ich die bewährtesten Plätze aufgesucht habe, aber die Haselnüsse sind dafür schon ganz gut. Gestern Nachmittag waren wir bei meiner Adamsfrau, sie hat uns sofort erkannt und gleich nach allen erkundigt. Sie hat den Adam nicht mehr, aber dafür ein andres reizendes Kind, das noch immer mit der Wollkatze spielt, die ich dem Adam vor 2 Jahren geschenkt habe!

Zwei neue Bänke sind am Weg hin, aber sonst ist alles gleich geblieben.

Ich weiß nicht, aber ich finde Klobenstein doch fast schöner, als alle andern Orte, wo wir bis jetzt waren. Sogar schöner wie San Martino.

Nur, wie an jedem Ort, gibt es auch hier etwas Schreckliches: das ist Herr Bresch. Für kurze Zeit wäre er gar nicht so arg, aber man hat ihn nie für kurze, immer für lange. Am ersten Tag haben wir das noch nicht so gut gekonnt, aber jetzt sind wir geübter und verschwinden meistens, wie er erscheint. Sonst sind keine Bekannten hier. Es waren viele von den damaligen Leuten, Bolfras, Kassowitz etc. da, sind aber schon fort.

Wir bleiben wahrscheinlich bis Montag, weil vorher gar keine Schlafwagenplätze nach Wien zu haben sind.

Es war doch eine sehr gute Idee, noch heraufzufahren.

Ich schicke Dir noch viele herzliche Grüße und einen Kuß von

Deiner Anna>>

 

Wie man daraus lesen kann, sind die Briefe Annas an ihren "Papa" voll von Umarmungen und Küssen, die ihre starke Anhänglichkeit zu ihm und die schmerzliche Trennung, die sie wegen der Beschäftigungen und der Reisen ihres Vaters erleiden muß, zum Ausdruck bringen.

1911 gesteht sie z. B., während sie auf die Ankunft ihres Vaters in Klobenstein wartet, daß sie ihn sehr vermißt und daß es ihr leid tut, ihn nicht hören zu können, wie er sie wegen ihrer Frechheit "Schwarzer Teufel" nennt. So13 schickt sie ihm einen traurigen Brief:

Klobenstein, 15. Juli 1911

<<Ich freue mich schon sehr auf Deine Ankunft und ich will Dich dann überall hinführen, wo es schön ist, denn ich kenne mich jetzt schon ein bischen aus. Ich glaube, Du wirst auch zum Schreiben hier viel mehr Ruhe haben als in Karlsbad, die Bahn fährt nur alle Stunden und Wagen und Automobile gibt es gar nicht.

Deine Anna>>

 

Aus der Geschichte der Psychoanalyse wissen wir, daß Anna Freud für längere Zeit auch zu Gast in einer Pension in Meran war. Nach dem im Jahre 1912 in den Dolomiten verbrachten Urlaub hätte Anna gemeinsam mit Tante Minna für ungefähr acht Wochen nach Sizilien fahren sollen; es handelte sich dabei um eine Reise, die Vergnügen und Erholung zugleich sein sollte: Das Klima der Insel hätte ihrer Gesundheit gut getan (sie litt nämlich an Keuchhusten und den Folgen einer Blinddarmoperation), und die Grand Tour hätte dem jungen Mädchen, das soeben die Reifeprüfung bestanden hatte, viele wertvolle Ratschläge für die Zukunft geben können.

Anna kommt aber für über fünf Monate nach Meran in jene Pension, in der sich bereits Mathilde dank der Thermalbäder erholt hatte. Hier feiert sie ihren achtzehnten Geburtstag. Traurig über die Abwesenheit des Vaters, schreibt das junge Mädchen ihm fast täglich. Freud verspricht, ihr bei ihrer Rückkehr nach Wien einen neuen Schreibtisch und einen Teppich für ihr Zimmer zu schenken.

Im Jahre 1913 nimmt Freud sie zu Ostern auf eine kurze Reise nach Verona, Venedig und Triest mit, bevor sie gemeinsam endgültig nach Wien zurückzukehren; Anna wird somit zu seiner neuen und unersetzbaren "Reisegefährtin".

Wie man aus der Chronologie im Anhang und dem Kapitel über "Wien und die Reisen" entnehmen kann, ist Klobenstein nicht der einzige Freudsche Ort; die Freuds sind immer wieder kreuz und quer durch unser Land gereist und haben nie aufgehört, es zu bewundern.

Ferenczi und Rank in Klobenstein

Die aus Klobenstein ausgehenden Entwicklungen der Psychoanalyse

Diese Gegenden werden bald auch für einige Pioniere der Psychoanalyse zu Urlaubs- und Studiumorten: es ist gerade in Klobenstein, daß S. Ferenczi und O. Rank Die Entwicklungsziele der Psychoanalyse (Int. Psych. Verlag, Leipzig und Wien) im August des Jahres 1923 abschließen, wobei es sich um ein wertvolles, wenn auch verwirrendes Buch handelt.

Auf den Urlaub auf dem Ritten folgt am 26. August 1926 in Castel Toblino und in San Cristoforo am Lago di Caldonazzo das Treffen der Mitglieder des "Komitees14"; es ist dies eine schwierige und betrübliche Sitzung, bei der nicht nur die obengenannten neuen Thesen untersucht werden15, sondern auch über Freuds Krankheit (Kieferkrebs) diskutiert wird. Man besucht ihn auch in Lavarone, wo er mit seiner Familie zum zweiten Mal den Urlaub verbringt.

Immer auf dem Ritten vollendet Ferenczi 1924 seinen Thalassa Versuch einer Genitaltheorie.

Als Zeugnis dafür schreibt er:

Sandor Ferenczi aus Klobenstein

21. August 1923

<<Lieber Herr Professor,

Ich freue mich Sie bald wiedersehen und sprechen zu können. [...]
Ich hatte hier eine Amerikanerin mit, der ich Stunden gab, schrieb hier die (Ihnen wohlbekannte) Genitaltheorie nieder und überarbeitete mit Rank - etwa fünfmal - die "gemeinsame Arbeit", über die wir noch mit Ihnen sprechen möchten. Mit dem Lesen des Manuskripts [...] wollte ich Sie im Sommer nicht belästigen; Rank las es bereits und legt es Ihnen auf Wunsch vor. [...] Meine Frau, die sich bis jetzt wohlfühlte, derzeit aber den "Klobensteiner Darmkatarrh" durchmacht und bettlägerig ist, läßt Sie alle grüßen.

Dem schließt sich herzlich an Ihr getreuer Ferenczi>>

Ferenczi möchte den Meister nicht "stören", der ja erst einige Monate vorher (am 20. April) einer Operation unterzogen worden ist, bei der ein kanzeröses Geschwulst im Mund entfernt wurde; es war dies der erste einer langen Reihe von Eingriffen und Schmerzen, die erst mit dem Tod Freuds im Jahre 1939 enden werden. Max Schur, sein persönlicher Arzt, gibt in seinem Buch Sigmund Freud. Leben und Sterben ein ergreifendes Bild dieser qualvollen Jahre.

Aus Budapest hatte Ferenczi dem Freund Groddeck seine Absicht angekündigt, zusammen mit Rank ein Werk mit dem Titel Entwicklungsziele der Psychoanalyse verfassen zu wollen:

Budapest, den 9. Juni 1923

<<Lieber Georg,

die Themen, mit denen ich mich derzeit zusammen mit Rank beschäftige, erfordern es, daß ich für ziemlich lange Zeit in persönlichem Kontakt mit ihm bleibe, zumal ich nach der Zeit mit Rank den Professor treffen werde (wahrscheinlich in Südtirol).>>

An Groddeck sind auch folgende Zeilen gerichtet:

Klobenstein (Bozen), den 5. August 1923

<<Lieber Georg,

ich schreibe derzeit die ganze Genitaltheorie.

Das Buch wird ungefähr hundert Seiten stark sein ["Thalassa", 1924].

Ich glaube, du wirst damit sehr zufrieden sein, so wie mit Ranks neuem Buch ["Das Trauma der Geburt", 1924].

Ich arbeite an einem technisch-politisch-wissenschaftlichem Werk,

(an dem auch Otto Rank mitarbeitet) das die Absicht der Wiedergutmachung verfolgt und deinen Anforderungen nahekommt.>>

Daraufhin schreibt er wenige Monate später:

Budapest, den 8. Oktober 1923

<<Lieber Georg,

ich habe mit den Korrekturen an dem Werk begonnen,

das ich zusammen mit Rank verfasse...>>

Verweilen wir nun kurz bei diesen in Klobenstein entstandenen Werken.

Entwicklungsziele der Psychoanalyse ist ein Essay17 mit einem kuriosen Hintergrund: Auf dem VII. Internationalen Kongreß in Berlin (25.-27. September 1922) hatte Freud einen Wettbewerb mit einem Preis von 20.000 Mark zu folgendem Thema vorgeschlagen: "Das Verhältnis zwischen psychoanalytischer Technik und Theorie: In welchem Ausmaß hat die Technik die Theorie beeinflußt und bis zu welchem Grad arbeiten sie heute zusammen oder behindern sich gegenseitig." Die einzigen Konkurrenten bei diesem Wettbewerb im darauffolgenden Jahr waren Rank und Ferenczi, die das obengenannte Werk vorlegten.

Gemäß der Darstellung der Autoren (die sie vor der Veröffentlichung des Buches Freud, aber nicht dem "Komitee" vorbrachten) hat sich die Psychoanalyse von einer Therapie zu einer Wissenschaft, einer Theorie, ja nahezu zu einer Lebensweise entwickelt. Um gute Heilergebnisse zu erzielen, müßte die Analyse nach der Meinung von Rank und Ferenczi mehr sein als die bloße Rekonstruktion der frühen Kindheit des Patienten; sie müte eine ehrliche, emotionelle Erneuerung der eigenen Existenz sein: Es werden also die "aktive" Technik und die innere Anteilnahme des Psychoanalytikers in den Vordergrund gestellt. Zum ersten Mal taucht in der Literatur der Psychoanalyse der Begriff des "Acting-out" auf; ebenso werden von der Psychoanalyse sozialer Einsatz und eine neue technische Methode gefordert, die dieser Entwicklung gerecht wird.

Parallel dazu zeigt die Untersuchung18 über den Ursprung des Sexuallebens, daß die Libido durch den Wiederholungszwang alle Spuren der Entwicklung, und zwar nicht nur die ontogenetischen, sondern auch die phylogenetischen in sich trägt. Die seelische Verdrängung ist nichts anderes als die Folge der biologischen Verdrängung im ständigen Kampf gegen die Anpassung: Die ältesten Zustände werden zum Teil von neuen und katastrophalen Zuständen verdrängt und abgeschafft. Das Weltbewußtsein ist eine bewußte Wiederholung des gesamten Werdens der Natur.

Das Trauma der Geburt, das andere Werk19, das in Klobenstein zu Ende geführt und 1924 in seiner endgültigen Fassung gedruckt wurde, basiert auf der wesentlichen Beziehung zwischen Mutter und Kind. Rank hatte bereits im Jahre 1919 (im Gegensatz zur Freudschen Theorie, laut der die erste und ursprüngliche Objektwahl des Kindes der Vater ist) geschrieben, daß alle seelischen Konflikte die Beziehung des Kindes zu seiner Mutter betreffen. Dies könnte heute zwar als eine übertriebene Vereinfachung betrachtet werden, die Ranksche Idee hat jedoch das Interesse der Psychoanalyse für die Rolle der Mutter in der normalen und pathologischen Entwicklung wecken können. Die darauffolgenden Arbeiten von D. Winnicott in England und E. H. Erikson in Amerika werden die Rolle der Mutter bestätigen, die sie in der Entwicklung des gesunden Kindes innehat. So werden die Trennungsangst und die Reaktion des Kindes beim Verlust der mütterlichen Hilfe immer erschöpfender untersucht.

In den Monaten, in denen Otto Rank das Trauma der Geburt veröffentlicht, stellt Melanie Klein ihrerseits zwei interessante Essays vor: Der erste ist eine allgemeine Darstellung der "Technik der Frühanalyse", die sie auf dem Internationalen Kongreß in Salzburg (im April 1924) vorstellt; der zweite ist der klinische Fall "Die Zwangsneurose eines sechsjährigen Mädchens" (der Fall Erna), den sie anläßlich der ersten Konferenz der deutschen Psychoanalytiker (im Herbst 1924 in Würzburg) darlegt. Das Werk von Melanie Klein erinnert ganz eindeutig an die Rankschen Ideen bezüglich der Rolle, welche die Erfahrung der Urangst bei der Entwicklung der ödipalen Beziehungen des Kindes spielt. Im Gegensatz zur Theorie Freuds und in Übereinstimmung mit den Rankschen Ideen vertritt Melanie Klein die Ansicht, daß sich alle für das Kind wichtigen affektiven Erlebnisse, einschließlich jener, die mit dem Ödipuskomplex zusammenhängen, während des ersten Lebensjahres ereignen.

Die Geranien

Klobenstein hat auch nach Freud seine berühmten Besucher immer wieder inspiriert und zum Träumen angeregt. Inmitten dieser Landschaft und Ruhe entsteht so eine heitere Erzählung20 von Cesare Musatti (1897-1989) mit dem Titel Die Geranien, die er noch in hohem Alter niederschrieb.

Es folgen einige Ausschnitte daraus.

<<- [Psychoanalytiker]: Mach es dir bequem und ... erzähl mir, was dir gerade durch den Kopf geht.>>

- [Musatti]: Ich könnte davon erzählen, was ich am Wochenende unternommen habe. Ich war in Klobenstein auf dem Ritten oberhalb von Bozen. Das Wetter war nicht besonders schön. Hin und wieder konnten wir durch die Wolken hindurch vor uns den Schlern, den Rosengarten und die kleinen Dörfer zu Füßen dieser Giganten der Dolomiten bewundern. Ich kehre immer wieder gern an jene Orte zurück, an denen Freud gewöhnlich seinen Urlaub verbrachte.

- Du bist natürlich ihm zu Ehren dorthin gefahren, da du dich ja entschlossen hattest, seinen Rat zu befolgen und dich wieder für eine bestimmte Zeit in Psychoanalyse zu begeben.

- Wahrscheinlich ist es wirklich so gewesen, ohne daß ich mir dessen bewußt war. Wir kehrten im Hotel Post ein, wo Freud 1911 seine Ferien verbracht und seinen fünfundzwanzigsten Hochzeitstag gefeiert hatte; wir speisten sogar im selben Speisesaal.

- Du bist also zum Vater gegangen, um dich ihm anzuvertrauen. Wie der brave Sohn, der den Hochzeitstag des Vaters nicht vergißt. Und woran erinnert dich Klobenstein sonst noch?

- Die Beete waren voller Blumen. Geranien ... Nein, Sonnenblumen wollte ich sagen. Riesige Sonnenblumen! Sie erinnern mich an etwas weit Entferntes, das meine Kindheit betrifft. Ich hatte einen ...

- ...Du sagtest vorhin Geranien statt Sonnenblumen*.

- Das ist wegen der lautlichen Ähnlichkeit. Außerdem scheint Geranie etwas mit geròn zu tun zu haben, was soviel wie Greis heißt.

- ...Mir scheint, daß aus dem, was wir gehört haben, hervorgeht, daß du eine nicht besonders glückliche Kindheit hattest.

- Das haben mir damals jene Altersgenossen erzählt, die mich als Kind kannten. Mir jedoch kommt es jedoch nicht so vor. Ich habe eine angenehme Erinnerung an meine Kindheit.

- Auf der Bewußtseinsebene ja. Aber in deinem Inneren muß es so gewesen sein, wie dir deine Altersgenossen berichteten. Und so hast du das ganze Leben lang das unerreichbare Ziel verfolgt, dich nie von den Brüdern und Söhnen ein- und überholen zu lassen und stolz jene Vorrangstellung innezuhalten, die dir direkt von den Vätern zugekommen ist.

- Jene, die ich besucht habe, oben auf den Bergen, die zwischen den Wolken hervorblicken, wo die Geranien blühen ..., nein, Sonnenblumen wollte ich sagen.>>


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