Inhalt

Der Herausgeber - Vorwort Premessa V
Francesco Marchioro
Psicoterapia, tra cura e senso della vita
Zusammenfassung
5
James Hillman -Tradition and innovation (or Revolution) 15
Horst Kächele
Regeln und Autonomie in der psychoanalytische Therapie
35
Marisa Fiumanò
Etica della direzione della cura
47
Giovanni Liotti
Psicoterapia e disorganizzazione dell'attaccamento
61
Oliver Seemann
Der Cyber-Patient.
Von der Virtualität zur Realität
87
Fausto Petrella
Psicoanalisi e psicoterapia in psichiatria
99
Johann Schülein
Moderne Gesellschaft und Psychotherapie
113
Leonardo Ancona
Mondo interno e multi-personale.
La quadratura del cerchio
133
Silvia Vegetti Finzi
"Maestro e traditore", J. Hillman
151
Francesco Marchioro
Interview with Anton Walter Freud
Colloquio con James Hillman

165
173
Verfasser 183

REGELN UND AUTONOMIE
in der psychoanalytischen Therapie

Horst Kächele

In den technischen Empfehlungen zur "Einleitung der Behandlung" verglich Freud die psychoanalytischen Behandlungsregeln mit den Regeln im Schachspiel:

<<Zu ihrer Entschuldigung diene, daß es eben Spielregeln sind, die ihre Bedeutung aus dem Zusammenhänge des Spielplanes schöpfen müssen. Ich tue aber gut daran, diese Regeln als "Ratschläge" auszugeben und keine unbedingte Verbindlichkeit für sie zu beanspruchen.>> (Freud 1913 c, S. 454 f. )

Hier wie dort erzeugen die Regeln eine unendliche Vielfalt von Situationen, die nur in der Eröffnungs- und Beendigungsphase eingeschränkt sind. Die komplexen interaktionellen Sequenzen, die einer bestimmten Form der Verteidigung oder dem Endspiel im Schach zugrunde liegen, haben Ähnlichkeit mit den Strategien der Behandlungsführung. Für sie lassen sich Ratschläge formulieren, die strategische Überlegungen in Regelform fassen. Anders dagegen sind die eigentlichen Spielregeln im Schach zu verstehen, die z. B. die Bewegungen der Spielfiguren festlegen und gleichsam Gesetzesfunktion haben, da ihre Einhaltung erst das Schachspiel konstituiert.
Während es im Schachspiel einfach ist, zwischen regelwidrigem und unzweckmäßigem Vorgehen zu unterscheiden, ist dies in der Psychoanalyse schwierig. Das liegt zum einen an der historischen Entwicklung der psychoanalytischen Theorie und Technik, zum anderen an den unterschiedlichen Funktionen, die psychoanalytischen Regeln eigen sind. So sei daran erinnert, wie stark die psychoanalytische Situation bei Freud den Charakter eines Assoziationsexperiments hatte, das zur Erforschung der Neurosenentstehung diente. Die striktesten und eindeutigsten Handlungsanweisungen formulierte Freud hinsichtlich der Rahmenbedingungen für diese Situation; die Regeln sollten eine " soziale Nullsituation" (Swaan 1978 ) herzustellen.
Nun hat sich längst herausgestellt, dass dieses Ideal für sozialwissenschaftliche Fragestellungen nicht angemessen ist. Die "soziale Nullsituation" ist niemals konkret herstellbar gewesen, auch wenn sie als leitende Utopie die psychoanalytische Praxis zu deren Schaden beeinflußt hat. Die strikte Handhabung der Rahmenbedingungen ist darauf zurückzuführen, daß sie von Analytikern überwiegend als Spielregeln aufgefaßt werden und nicht als Mittel einer günstigen Behandlungsstrategie. Die Frage, wie zuverlässig selbst solche scheinbar eindeutigen Regelungen zum Ziel führen, wurde von Ludwig Wittgenstein in aphoristischer Weise verfolgt:

<<Eine Regel steht da, wie ein Wegweiser. - Läßt er keinen Zweifel offen über den Weg, den ich zu gehen habe? Zeigt er, in welche Richtung ich gehen soll, wenn ich an ihm vorbei bin; ob der Straße nach, oder dem Feldweg, oder querfeldein? Aber wo steht, in welchem Sinne ich ihm zu folgen habe; ob in der Richtung der Hand, oder (z. B.) in der entgegengesetzten? - Also kann ich sagen, der Wegweiser läßt doch keinen Zweifel offen. Oder vielmehr: er läßt manchmal einen Zweifel offen, manchmal nicht. Und dies ist nun kein philosophischer Satz mehr, sondern ein Erfahrungssatz.>> (Wittgenstein 1960, S. 332 f. )

Regeln konstituieren eine Bedeutungsidentität, weil sie dafür Sorge tragen, daß in der Vielfalt der Erscheinungen das Regelgeleitete als Konstante aufgesucht werden kann: sie stellen die "Einheit in der Mannigfaltigkeit ihrer exemplarischen Verkörperungen, ihrer verschiedenen Realisierungen oder Erfüllungen" her (Habermas 1981, Bd. 2, S. 32 ). Diese Überlegungen sind für das Verständnis der regelkonstituierten psychoanalytischen Situation von großer Wichtigkeit; sie unterstreichen, daß die Bedeutung des Verhaltens von Analytiker und Patient an die Existenz gemeinsamer Regeln gebunden ist. Die Kleinlichkeit mancher Regelungen resultiert aus dem Bestreben, Bedeutungsidentität zu schaffen, auch über die Grenzen der jeweiligen Behandlungssituation hinaus. Gerade in dem von so vielen Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten geprägten Feld der Psychoanalyse haben Regeln die Funktion bekommen, den Zusammenhalt der Gruppe zu stabilisieren. Die Gemeinsamkeit der Regeln dient dabei als professionelles Kennzeichen. Dies erklärt, daß z. B. die Benutzung der Couch und die intensive Stundenfrequenz zu einem wesentlichen Kriterium dafür geworden sind, ob eine Behandlung als Analyse tituliert werden darf oder nicht (Kächele 1994 ).
Der Sinn von Regeln besteht in der Intersubjektivität ihrer Geltung. Die Schaffung von Intersubjektivität ist zugleich eine weitere wichtige Funktion der Regeln, gerade im Bereich der Psychoanalyse. Ein einheitlicher Rahmen garantiert die Vergleichbarkeit von Befunden usw., ermöglicht also scheinbar eine Standardisierung des psychoanalytischen Verfahrens. So vielfältig Patienten beispielsweise auf die Couch und das Liegen reagieren, besitzt doch der Analytiker ein gewisses Erfahrungsspektrum bezüglich dieser Reaktionen und kann deshalb diagnostische und therapeutische Rückschlüsse ziehen. Die Standardisierung des äußeren Rahmens vermittelt allerdings häufig lediglich einen Anschein von Gleichheit, da die Regeln in ihren Auswirkungen im hohen Maße von zusätzlichen Bedingungen abhängig sind. Standardisierung muß dort ihre Grenzen haben, wo der therapeutische Prozeß behindert wird. Im Sinne Wittgensteins geht es hier um Erfahrungssätze, die den Vergleich zwischen Regel, Weg und Ziel zum Gegenstand haben. Tatsächlich modifizieren wir die Regeln, wenn diese in die Irre führen, z. B. wenn das Liegen auf der Couch eine hemmende Wirkung auf den Patienten hat .
Die Vielfältigkeit der Randbedingungen ist auch verantwortlich dafür, daß die psychoanalytischen Behandlungsregeln kein geschlossenes und in sich strukturiertes System bilden, sondern eher eine Summe von Anweisungen auf verschiedenen Gebieten und von unterschiedlich imperativem Gehalt sind.
Wieviele dieser zahlreichen Richtlinien wirkliche Spielregeln des psychoanalytischen Sprachspiels sind und den konstitutiven Kern darstellen, ist schwer auszumachen. Denn im Unterschied zum Schachspiel gibt es keine Regeln, die nichts anderes bewirken würden, als daß zwei Menschen sich zu einem Spiel zusammenfinden. Spielregeln der Psychoanalyse sind immer zugleich auch Strategieregeln, die in jeder einzelnen Beziehung ausgehandelt und kontinuierlich bestätigt werden müssen. Dies unterscheidet sie vom Regelsystem des Schach, bei dem Spielregel und Strategieregel klar getrennt sind.
Behandlungsregeln sind grundsätzlich zielorientiert, sie lassen sich als Einzelschritte der psychoanalytischen Methodik begreifen und dadurch mit anderen wissenschaftlichen Methoden vergleichen. Diese Zielorientierung verbietet aber gerade jene Kanonisierung von Regeln, wie sie im Schachspiel selbstverständlich ist. Freud war sich dieser Problematik bewußt, und bei ihm hatte daher die Zweckmäßigkeit stets Vorrang.
Die kritische Auseinandersetzung mit der Zweckmäßigkeit von Regeln scheint uns innerhalb der Psychoanalyse noch eher schwach entwickelt. Regeln werden allzu häufig nicht mit ihrer Nützlichkeit, sondern mit ihrer Verankerung in der psychoanalytischen Theorie begründet. Nun ist diese theoretische Verankerung eine schwierige Sache. Für die Psychoanalyse gilt, daß ihre Theorien ganz überwiegend nach den Entstehungsbedingungen der Störung fragen, die technischen Regeln aber an den notwendigen und hinreichenden Änderungsbedingungen für den therapeutischen Prozess orientiert sind: Die Technik ist in der Psychoanalyse nicht einfach eine Anwendung der Theorie.
Das Verhältnis von Spielregelfunktion und strategischer Funktion jeder einzelnen Behandlungsregel befindet sich in ständigem Fluß. Sicherheitsbedürfnisse und Identitätsprobleme auf seiten des Analytikers fördern die Verabsolutierung von Regeln. Aufkommende Schwierigkeiten im therapeutischen Prozeß erzwingen häufig eine Überprüfung der Zweckmäßigkeit und damit eine Infragestellung der Behandlungsempfehlungen.
Patienten tragen das ihre zu dieser Fluktuation bei: Es kann einem aufmerksamen Patienten nicht entgehen, daß ein Analytiker in bestimmter Weise regelhaft vorgeht, selbst wenn dem Patienten dies nicht mitgeteilt wird. Fragen nach der Berechtigung eines solchen Vorgehens werden häufig von den Patienten selbst aufgeworfen. Es ist deshalb nur eine Frage der Zeit, wann in einer Analyse auch die Rahmenbedingungen zum Gegenstand kritischer Fragen gemacht werden. Sie verlieren dann temporär ihren Status als Rahmen und werden heftig umkämpft, bis entweder die unbewußten Determinanten der Infragestellung verstanden und aufgelöst oder die Rahmenbedingungen entsprechend modifiziert worden sind. Behandlungsregeln laden gerade dazu ein, zum Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen Patient und Analytiker zu werden; dies ist eine Erfahrung, die nicht nur nicht vermieden werden kann, sondern vielleicht auch gar nicht vermieden werden sollte.
In umgekehrter Weise machen sich Patienten die Regeln ihrer Analytiker zu eigen. Cremerius (1977 ) hat an Patienten mit Über-Ich-Störungen deren Tendenz zur Verabsolutierung von Regeln überzeugend gezeigt. Es erübrigt sich zu sagen, daß die Effektivität der Behandlung durch eine Verabsolutierung von Regeln ebenso stark gefährdet wird wie durch das schrankenlose Infragestellen jeder strukturierenden Vereinbarung. Therapeutisch ist es unerläßlich, Regeln in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation und den Störungen des Patienten zu variieren. In Umkehr eines bekannten Sprichwortes möchten wir formulieren, daß in der Psychoanalyse Ausnahmen die Regel sind. Ob und wie die vom Analytiker eingeführten Regelungen begründet werden, ist entscheidend durch die Art der therapeutischen Beziehung bestimmt. Ich plädiere dafür, daß Regeln im Hinblick auf ihre therapeutische Zweckmäßigkeit sorgfältig erläutert werden, und daß dabei die Vorteile für die Arbeitsfähigkeit des Analytikers sowie die Nachteile für das aktuelle Wohlbefinden des Patienten nicht unterschlagen werden. Der analytische Prozeß entwickelt sich dann im Wechselspiel zwischen Infragestellung und verstärkter Etablierung der die Behandlung begleitenden Regelungen. Günstigenfalls entwickeln Analytiker und Patient in diesem Wechselspiel gemeinsam das für die Behandlung optimale Regelverständnis.
Behandlungsempfehlungen widerspiegeln im Bereich der Psychoanalyse das ganze Spektrum von theoretischen Grundannahmen, Zielvorstellungen und klinisch gewonnenen Erfahrungen.



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