Quaderni di Collalbo (nr.5 - 2001) solo in Internet

3. Freud-Woche in Klobenstein
"Adolescenza che emozioni!", Sivia Vegetti Finzi
"Zur Psychoanalyse der Traumatisierung",Wolfgang Schmidbauer


"Zur Psychoanalyse der Traumatisierung!"

Wolfgang Schmidbauer

Die narzißtische Beschädigung durch den Verlust der faschistischen Ideale traf die Väter stärker als die Mütter. Die problematische Beziehung zu früheren Soldaten führte vor allem dann zu großen Spannungen, wenn der heimgekehrteVater die Familie dort abholen wollte, wo er sie verlassen hatte, und sich nicht damit abfinden konnte, wie sich Frau und Kinder inzwischen weiterentwickelt hatten. In Nachkriegsehen war diese Belastung nicht gegeben. Sie waren eher durch die Hast gefährdet, mit der sie oft geschlossen wurden. Übergroße Erwartungen, vom Partner für die kriegsbedingten Verluste (etwa naher Angehöriger) entschädigt zu werden oder das vom Krieg beeinträchtigte eigene Leben forziert nachzuholen, drohten sie zu destabilisieren. Die Männer traten in der Gestaltung der Familien zurück; sie fühlten sich durch den Zusammenbruch des politischen Wahnsystems in ihrer Männlichkeit in Frage gestellt und als Identifikationsfiguren für ihre Söhne entwertet. In der Familie eines Patienten hatte der kriegstraumatisierte Vater scheinbar nichts dagegen, daß die Mutter ihre Liebhaber im gemeinsamen Haushalt bekochte. Der Vater eines anderen Patienten dichtete einen Knittelvers: "Ist die Mutter sauer / stirbt der stärkste Bauer / Typhus, Pest und Cholera / sind dagegen Tralala."

Das Verschwinden der väterlich-strukturierenden Elemente aus den Familien erschwert die Entwicklung von Autonomie und Aggressionsverarbeitung bei den Söhnen. Sie bleiben unselbständig und neigen dazu, narzißtische Stabilität in einer ambivalent erlebten Anlehnung an idealisierte Bezugspersonen zu suchen, die eher mütterliche als väterliche Qualitäten haben.

Die prägenden Einflüsse auf die Kinder lassen sich unter dem Aspekt einer gesteigerten narzißtischen Bedürftigkeit der Eltern zusammenfassen. Die nationale Kränkung und die intensive Scham über das, was die eigene Generation angerichtet hatte, führten zu einer Überforderung der Möglichkeiten, die Einbußen an persönlicher und nationaler Geltung abzutrauern. Eine Folge für die Kinder ist ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis, um die labile narzißtische Versorgung durch die Eltern auszugleichen.

Nationalsozialismus und Faschismus eignet wie allen fanatischen Weltanschauungen ein Mangel an Humor, an Selbstdistanz und an der Fähigkeit, die eigene Eitelkeit (und damit die eigene Kränkung) selbstkritisch zu brechen. Dieser Mangel belastet die Kinder der traumatisierten Vätern bzw. Müttern oft doppelt: einerseits neigen humorlose Menschen besonders dem Fanatismus zu; anderseits erschwert der Mangel an Humor die angemessene Verarbeitung des Traumas. Eltern, die über ihr eigenes Leben mit Humor sprechen können – über ihre Schulprobleme, ihre eigenen Schwierigkeiten mit ihren Eltern, mit Sexualität usw.- bewahren ihre Kinder in der Regel davon, sich für die Probleme der Eltern schuldig zu fühlen bzw. ich-einschränkende Abwehrformationen gegen dieses Schuldgefühl aufzubauen. Je stärker aber die Traumatisierungen und die Schuldgefühle bei den Eltern sind, desto weniger ist eine solche Perspektive möglich. Ein zentraler Beitrag der psychoanalytischen Therapie liegt darin, sie zurückzugewinnen.

Literatur

SCHMIDBAUER W., Ich wusste nie, was mit Vater ist – Das Trauma des Krieges, Rowohlt 1998

b) Checkpoints, Eskorten und die Lust auf Wiederkehr

Warum ich gerne noch einmal in ein "unsicheres Land" reisen möchte

Wolfgang Schmidbauer

Wenn ich von der Stimmung des Reisenden in einem der "unsicheren Länder" erzähle, fällt mir immer die Szene ein, in der ich nach dem Sicherheitsgurt suchte und eine Kalaschnikov fand. Es war am zweiten Tag unserer Rundfahrt durch den Jemen. Wir sollten die Wüste sehen, Schabwa, das alte Saba, die Trockentäler von Hadramaut und die aus Lehmziegeln erbauten Wolkenkratzer von Schibam. Zu einer solchen Wüstentour gehört ein Beduinenführer, ein Stammesangehöriger als Begleitschutz, der zweihundert Dollar erhält, um den Landcruiser mit den vier Touristen sicher durch das Gebiet von Stämmen zu bringen, die überzeugt sind, dass alles ihnen gehört, was sich in ihrem Gebiet bewegt. Wer von aussen kommt, nennt solche Beduinen Diebe und Räuber; wer dem Stamm angehört, findet es selbstverständlich, alle Ressourcen zu nutzen. Wie soll man sonst in der Wüste überleben?

Dieser Beduine lud mich ein, mit ihm zu fahren; so liess ich Ahmed, unseren englischsprechenden Reiseleiter und den Rest der kleinen Gruppe in dem Landcruiser zurück und setzte mich zu ihm. Auf einer Schotterebene schaltete er und streckte triumphierend fünf Finger hoch - er fuhr im fünften Gang. Bei solchen Geschwindigkeiten auf unsicherem Grund sollte man sich anschnallen. Tatsächlich hing neben mir ein Sicherheitsgurt. Aber als ich auf der anderen Seite das Gurtschloss suchte, war es nicht zu finden: Zwischen den Sitzen stand eine wohlpolierte Maschinenpistole, von der sich unserer Wüstenbegleiter niemals trennte. Als wir später zu einem Frühstück in den Ruinen von Schabwa ausstiegen, trug er sie über der Schulter.

Von Checkpiont zu Checkpoint

Wir sind um acht Uhr aufgebrochen und haben die Hauptstadt Sanaa in Richtung Norden verlassen, durch eine dürre Hochebene, die von roten Hügeln begrenzt ist. Schon am ersten Polizeiposten geht es nicht weiter. Ahmed zuckt mit den Achseln. Es wird bis neun Uhr dauern, wir sollen in einer bewachten Kolonne fahren, eines der Fahrzeuge ist noch nicht da. Es wird heiss, vor uns, im Schatten einer Bude, duckt eine Schar von sechs winzigen Mädchen die Strubbelköpfe zusammen, während ein Junge, nicht grösser als sie, mit einer Stahlrute (die ihren Ursprung aus einem Drahtkleiderbügel nicht verleugnen kann) die kleine Herde bewacht und jedes Köpfchen, das zu hoch ragt, mit einem sanften Schlag zurückstupst.

Überall an diesem Checkpoint an der Hauptstrasse nach Norden stehen Bewaffnete in Tarnuniformen; gelbschwarze und blaubunte fallen neben dem vertrauten Khaki auf. Endlich treffen zwei Edel-Geländewägen ein, ein Polizei-Pickup mit einem Maschinengewehr fährt voraus.

Beim nächsten Kontrollpunkt verlieren wir die Eskorte. Dann kommen zwei Stops, wo nicht Militär, sondern bewaffnete Beduinen Ahmeds Ausweis sehen wollen. Er erklärt uns, dass es eine Fehde gibt und die Angehörigen des gegnerischen Stammes nicht passieren dürfen. "The Government is weak", setzt er hinzu, scheint aber nichts besonders dabei zu finden. Ich stelle mir vor, dass zwischen Augsburg und München alle Autofahrer von bewaffneten Oberbayern mit geladenen Stutzen kontrolliert werden, weil keine Schwaben mehr einreisen dürfen, nachdem sie einen oberbayerischen Reisebus beschlagnahmt haben und jetzt von München Lösegeld für die Insassen erpressen wollen. Um uns kümmert sich der Kontrolleur nicht, aber Ahmed muss aussteigen und aus einem verschlossenen Koffer einige Papier holen. An den Strassenrändern zahlreiche Bewaffnete, die in kleinen Grüppchen stehen und plaudern.

Die Strasse klettert über ein Gebirge und fällt dann in vielen Serpentinen zur Hochebene von Marib. Am nächsten Posten werden wir wieder von der Strasse gewinkt. Jetzt ist Ahmed sichtlich verärgert, er bringt uns zu einer der Zementstein-Wellblech-Hütten abseits der Strasse, zu der wir auf einem Teppich flachgequetscher Coladosen gehen. Dort soll es Tee geben. Wir bleiben auf der Veranda und behalten die Schuhe an. Aus dem Augenwinkel sehe ich hinter einer Glastür Teppiche, auf denen säuberlich gereiht polierte Kalaschnikovs liegen, hinter ihnen auf Polstern, das Mundstück der Wasserpfeife im Mund, ihre bärtigen Besitzer. Ein Zwölfjähriger in einem zerrissenen Kaftan, die Maschinenpistole über der Schulter, den Dolch im Gürtel, will uns eine "Ausgrabung" verkaufen, einen geschnitzen Stein, der die Mond- und Muttergöttin von Saba darstellt. Ich bin doch froh, dass ich ihm meine Ablehnung seines Angebots nicht allein in der Wüste mitteilen muss.

Schliesslich geht es weiter. Der Sitz neben dem Fahrer bietet die beste Aussicht, hat aber im Jemen auch gewisse Nachteile. Neben mich quetscht sich ein schmächtiger junger Mann mit energischem Kinn und der üblichen Schusswaffe, die er zwischen seine Beine stellt und deren Mündung er liebevoll mit einem Daumen verschliesst, vielleicht gegen eindringenden Staub. Er isst mit uns in einem Fernfahrerlokal und verlässt uns erst, als wir in dem Viersternehotel Bilquis Marib angekommen sind. Dort setzt er sich zu einer Gruppe Bewaffneter, die das Tor der Einfahrt hüten. Wir sollen duschen, uns etwas ausruhen, um vier Uhr, wenn es nicht mehr so heiss ist, fährt uns Ahmed zu den Resten des riesigen Staudamms und zu den legendenumwobenen Tempelruinen, die erst im vergangenen Jahrhundert entdeckt wurden.

Das neu erbaute, um einen Innenhof mit Swimmingpool gruppierte Hotel Bilquis Marib (Bilquis ist der arabische Name der Königen von Saba) hat die Gestalt einer osmanischen Festung und liegt auf einem Hügel über Neu-Marib mitten in den Feldern, die mit Hilfe eines Staudamms bewässert werden. Dieser Damm wirkt wie ein Zwerg gegenüber seinem antiken, ganz ohne Maschinenhilfe gebauten Urahn; er liegt weit bergwärts, in einer Engstelle des Tals. Angesichts der gigantischen Masse des Erddamms und des im Dunst flimmernden Wasserspiegels fällt es schwer, sich vorzustellen, daß der alte Damm von Marib noch erheblich länger war. Von ihm sind nur die aus behauenen Steinen wie Wachttürme gefertigen Anlagen zur Verteilung des Wassers erhalten; der Lehmwall zwischen ihnen ist zerfallen, in die Ebene geschwemmt. In einer schattigen Nische über dem Wasserspiegel des neuen Staudamms liegen zehn Männer gemütlich mit Wasserflaschen. Sie kauen Kat, ein mildes Betäubungsmittel, das von rund 80 Prozent der jemenitischen Männer konsumiert wird.

Während Ahmed beim Landcruiser bleibt, begleitet uns der Leibwächter zu den Ruinen. Ohne uns aus den Augen zu lassen, plaudert er mit einigen Beduinen, die "Ausgrabungen" und Gipskristalle verkaufen; einer davon ist unermüdlich dabei, ein Steinsiegel mit feinem Sand zu füllen und zu zeigen, wie dieser dann auf seiner Handfläche Buchstaben in sabäischer Schrift formt. Ein kleiner Junge bettelt; plötzlich wirft er sich zu Boden und weint laut. Es fliessen keine Tränen, er hilft mit Spucke nach, die er sich flink unter die Augen reibt. Wir haben uns entschieden, Bettlern nichts zu geben, um die Belästigung der Reisenden nicht zu fördern. Mir fällt es nicht leicht, diesem Entschluss treu zu bleiben. Ich habe es auch nicht durchweg getan.

Beim Abendessen im Hotel fallen uns einige Einschusslöcher in den Glastüren des Restaurants auf. Die Nacht ist unruhig, Moskitos singen, der Dieselgenerator für den Strom brummt.

Wüstenfahrt

Die Landschaft ist reich, mit vielfältigen Formen von Steinen, Geröll und Sand, aber die rasche Fahrt gibt ihr die Qualität einer Filmszene. Schliesslich wird die Vegetation in unmerklichen Schritten dichter, in der Ferne erkenne ich die eine und andere Kamelsilouette, schliesslich zeigen Würfelhäuser und Zelte Beduinensiedlungen an. Die weit gefächerte Piste, deren Spuren sich oft mehrere hundert Meter breit über die Sand- und Schotterfelder ziehen und deren Grenzen gelegentlich durch in den Sand eingelassene Autoreifen markiert sind, verengt sich zu einer einzigen Spur zwischen Büschen und schliesslich Bäumen. Dann löst ein Meer von Kieseln das Sandmeer ab, wenig später tauchen die Ruinen einer Lehmstadt auf. Wir haben Schabwa erreicht, das erst in diesem Jahrhundert von europäischen Forschern besucht wurde. Auf jeder Ruine steht ein Bewaffneter; wir erfahren, dass der französische Botschafter mit Eskorte Ausgrabungen seiner Landsleute besucht.

Wir fahren weiter durch die Mittagshitze, zu einer Siedlung aus dürftigen Hütten und Stockverschlägen, in denen junge Kamele an vorgestreutem Grün knabbern. Unser Beduinenführer fährt einen merkwürdig krummen Weg, als gäbe es unsichtbare Vorgaben. Schliesslich hält er an dem einzigen grösseren Gebäude, zieht den Zündschlüssel ab, sperrt das Handschuhfach auf, nimmt zu meinem grossen Staunen zwei brikettgrosse Packen Geldscheine heraus und verschwindet mit ihnen in dem Gebäude. Das Geld hat er wohl seinem Scheich gegeben, einem greisen Mann in weissem Turban, mit dem er aus dem Gebäude tritt und sich zärtlich verabschiedet. Es ist einheimisches Geld in kleinen Scheinen, vermutlich ein Teil der Dollarsumme, welche die beduinische Begleitung und Bewachung kostet. Wer sie nicht beansprucht, riskiert den Verlust seines Autos.

Alles ist Beute, was sich im Stammesgebiet bewegt. Unser Führer hat uns in Besitz genommen und würde uns gegen jeden Stammesangehörigen verteidigen, der ihn nicht respektiert. Ich empfinde eine merkwürdig innige Beziehung zu dem Mann neben mir, der den Staub aus seinen Musikkasetten klopft und einen frommen Singsang nach dem anderen spielt, mich dazwischen angrinst, bei einer Kamelmutter samt Jungem hält, um mich fotografieren zu lassen. Ich denke daran, ihm mein Fernglas zu schenken, helfe ihm mit Kopfschmerztabletten, wir erklären uns in Zeichensprache Zahl und Alter unserer Kinder. Er sieht aus wie knapp dreissig, hat aber vier Söhne, der älteste ist zehn Jahre alt, der kleinste drei. Ich umarme ihn zum Abschied, ein Bündel aus Sehnen, Knochen und Muskeln unter den weiten Gewändern der Wüste.

Am Abend erzählt Ahmed von einer Entführung. Sie hing damit zusammen, dass die Beduinen von Marib nicht gewöhnt sind, ihre Autos zu versteuern. Sie fahren ohne Nummernschild. Als einige in Sanaa einkaufen wollten, liess sie ein eifriger Polizeikommandant einsperren, um sie zu zwingen, die Gebühren für ihre Fahrzeuge zu bezahlen. Daraufhin entführten die Beduinen eine Gruppe von Touristen und liessen sie erst frei, als ihre Stammesbrüder mit ihren Autos zurück in die Wüste fahren durften. "Some are crazy people. The government is weak." Mehr als soche knappen Kommentare hat sich Ahmed nie über die politische Situation in seinem Land entlocken lassen. Es ist wie in der deutschen Nachkriegszeit. Die Wunden des Bürgerkriegs sind noch nicht vernarbt.

Polizeisperren und Eskorte werden dem Reisenden im Jemen schnell selbstverständlich. Wenn wir uns eigentlich immer sicher gefühlt haben, liegt das auch daran, dass wir das Land nicht auf eigene Faust, sondern unter dem Schutz eines einheimischen Führers und der Organisation des sorgfältigen Leiters der Cameleers Tours bereist haben. Ahmed war unser Vater und unsere Mutter. Er sah jeden der tückischen Zementbuckel auf der Strasse, mit denen im Jemen die Geschwindgkeit der Automobile bei Gefahr des Achsenbruchs auf Schrittgeschwindigkeit heruntergeregelt wird. Er hatte ein Bündel fotokopierter Blätter mit genauen Angaben über unsere Namen und Passdaten, die er an den Checkpoints abgab, wodurch uns das zeitraubende Ausfällen von Formularen erspart wurde: Je weniger entwickelt ein Land, desto umständlicher seine Bürokratie. Er war selbst Soldat gewesen und wusste, wo er sich fügen, wo er sich durch autoritäres Auftreten durchsetzen konnte. Er ging mit uns in arabische Lokale, die wir von aussen gar nicht als Orte erkannt hätten, in denen es Geniessbares gab, hielt an Plätzen mit schöner Aussicht für die Fotografen und an Orten mit Verstecken aus Fels oder Baum für die Pinkelpause - eines der wenigen deutschen Worte, die er beherrschte.

Ein Venedig des Staubes

So ergibt die Bilanz der Reise eine merkwürdige Mischung von Verunsicherung und Beruhigung, vor dem Hintergrund der unleugbaren Tatsache, dass Landschaft, Architektur und Menschen im Jemen nicht nur äusserst schön, sondern - wie man es in Europa von Venedig gesagt hat - auch fast frei von Hässlichem sind. So wünsche ich mich oft in den Jemen zurück. In der Toscana, in Sizilien oder Andalusien gibt es wunderschöne Plätze, aber wer sie besucht, fährt weite Strecken durch zersiedelte Landschaft und muss sich, einmal an einem schönen Ort angekommen, mit der Suche nach einem Parkplatz quälen. Und da er sich frei bewegen kann und sich einbilden darf, auch ohne Sprachkentnisse und Dolmetscher mit den Eingeborenen geschickt umzugehen, erblühen in einer einzigen Provinz der Touristengebiete des europäischen Südens mehr Betrüger, Diebe und Räuber, als im ganzen Jemen, wo landeskundige Führung die sittenstreng geregelten Umgangsformen mit dem Fremden durchaus harmonisch gestalten kann, auch wenn das Land noch viele mittelalterliche Züge besitzt.

Unsere psychologische Risikoeinschätzung ist nicht realistisch, sie orientiert sich am Besondern, am Spektakulären. Daher erleben wir Flugreisen viel gefährlicher als Autofahrten und denken bei einer Reise in den Jemen mehr an das Risiko einer Entführung (seit 1992 wurden rund sechzig Fälle bekannt; fast alle gingen gütlich aus), als an Krankheiten oder Verkehrsunfälle, die sicher mehr Touristen gefährlich werden. Statistisch gesehen, ist die Reise in eines der milden Risikogebiete, wie den Jemen, Ägypten oder die Türkei wohl nicht gefährlicher als die Autofahrt zum Urlaub in der Toscana oder in der Lüneburger Heide. Aber eine Entführungsmeldung genügt, und die Reiseunternehmer in den betreffenden Ländern zittern.

Im Jemen sind die Strassen der alten Städte noch Staub. Kinder spielen darin, Esel und Ziegen spazieren darüber, die Grenz- und Trennschicht zwischen dem städtischen Ich und dem Mutterboden ist nicht so entwickelt wie in meiner Heimat. Der Strassenstaub frisst den organischen Abfall. Im Gegensatz zu früheren Reisen hatte ich diesmal keine Probleme mit dem allgegenwärtigen Müll. Ich fügte mich der Sitte, Dinge wegzuwerfen, die ich nicht mehr brauchte, und entdeckte, wie bequem es ist, beim Picknick im Hotelzimmer ein Handtuch auf den Boden zu legen, Brot, Obst und Yoghurt darauf auszubreiten und halb liegend zu essen. In Sanaa gibt es eine Müllabfuhr, wir werfen unsere Abfälle in einen der Behälter. Ab und zu kommt eine Hirtin, den Strohhut über dem schwarzen Schleier. Sie führt eine Ziegenherde, reisst die Plastiktüten heraus und schüttet den Inhalt ihren Tieren hin, die vor allem die Kath-Reste herauspicken, Blätter und Stengel, die für die Menschen nicht mehr zart genug sind. Auch Papier scheint diesen Grossstadtziegen zu schmecken.

Wer sich dem Lebensstandard hier anpasst, muss nicht hungern, nicht dursten und nicht frieren, wenn er am Tag zehn Mark ausgibt. Gemessen an den Armen ist er reich, gemessen an den Reichen arm - er ist sicher reicher als die meisten Menschen hier. Diese Situation ergibt ein Gefühl der Leichtigkeit; ich hatte nach der Rückkehr einige Wochen lang Mühe, Klagen meiner Kollegen über sinkende Honorare ernst zu nehmen, durch die ihr Tagesverdienst auf das jemenitische Jahres-Durchschnittsseinkommens zu sinken drohte. Aus dieser Leichtigkeit wächst auch ein Gefühl der Angst, es ist, als ob das eigene Leben weniger wert ist und flüchtiger wird, hinweggeweht werden kann wie eine Plastiktüte von der Sandhexe. Diese Empfindungen hängen sicher mit der touristischen Existenz zusammen, sie würden sich vielleicht ändern, wenn man hier ein Haus kauft und die Sprache erlernt. Aber diese Sesshaftigkeit würde zu neuen Grenzen führen, zur Auseinandersetzung mit der strikten Religiosität, mit der mangelnden Rechtssicherheit. In der Toscana konnte ich in fast dreissig Jahren Aufenthalt den Graben zu den Einheimischen keineswegs einebnen. Ich weiss heute nur ziemlich genau, wie tief und wie breit er ist.

Abschied vom Jemen

In einem Teeausschnak an der Dawud-Moschee, vor einem Ruinengelände, das mit Wellblech eingezäunt ist, sitzen die alten Männer mit ihren Gläsern und studieren hingebungsvoll ein Faltblatt mit einem religiösen Text. Sie tragen Dolch, Rock und Turban. Abseits, vor dem Wellblech, eine Gruppe junger Männer in bedruckten T-Shirts und Jeans. Sie diskutieren über das arabische MTV, die Musikvideos, die via Satellit auf jedem Bildschirm hier flimmern. Im Staub sammelt ein fünfjähriger Junge mit blossen Händen frischen Dung auf ein Stück Plastikfolie. An der Ecke eine Gruppe etwas älterer Kinder, die Steinewerfen üben - auf die beiden Touristen, die eben ihr Revier durchqueren. Ein Mann mittleren Alters weist sie zurecht, sie lassen die Steine fallen.

Hier wird sich vieles schnell verändern. Ich empfinde diese Veränderung als schmerzlich und freue mich doch schamhaft, weil ich diese Welt noch vor ihr kennengelernt habe. Das Mittelalter trifft binnen einer Generation auf die Moderne, der Strassenstaub auf den Zement, der Dolch auf die Kalaschnikov, die schwächliche Zentralmacht auf die Universalität der Medien. Noch ehe das Gewaltmonopol des Staates und die Aufklärung ihre Wirkungen entfalten können, wächst um die verfallenden Mauern der mittelalterlichen Zentren die Konsumgesellschaft. Unter ihrem Diktat schlägt die authentische Szene der Krummdolchträger und des Marktgewühls jäh in die Kulisse eines Hollywoodfilms über einen Stoff aus 1001 Nacht um, in dem jeder Tourist sein eigenes Video gestaltet. Kinder, die dem Fremden sukra, sukra (Foto, Foto) zurufen, sind in die Zukunft geflohen.

Der Autor und Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer lebt in München und in der Toscana; über seinen Aufenthalt dort hat er auch ein Buch geschrieben: "Ein Haus in der Toscana. Reisen in ein verlorenes Land."

Dezember 2000

Dr. Wolfgang Schmidbauer


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