Quaderni
di Collalbo (nr.5 - 2001) solo in Internet
3. Freud-Woche in Klobenstein
"Adolescenza che emozioni!", Sivia Vegetti Finzi
"Zur Psychoanalyse der Traumatisierung",Wolfgang
Schmidbauer
"Zur Psychoanalyse der Traumatisierung!"
Wolfgang Schmidbauer
Die narzißtische Beschädigung durch den Verlust der faschistischen
Ideale traf die Väter stärker als die Mütter. Die problematische
Beziehung zu früheren Soldaten führte vor allem dann zu großen
Spannungen, wenn der heimgekehrteVater die Familie dort abholen wollte,
wo er sie verlassen hatte, und sich nicht damit abfinden konnte, wie
sich Frau und Kinder inzwischen weiterentwickelt hatten. In Nachkriegsehen
war diese Belastung nicht gegeben. Sie waren eher durch die Hast gefährdet,
mit der sie oft geschlossen wurden. Übergroße Erwartungen,
vom Partner für die kriegsbedingten Verluste (etwa naher Angehöriger)
entschädigt zu werden oder das vom Krieg beeinträchtigte eigene
Leben forziert nachzuholen, drohten sie zu destabilisieren. Die Männer
traten in der Gestaltung der Familien zurück; sie fühlten
sich durch den Zusammenbruch des politischen Wahnsystems in ihrer Männlichkeit
in Frage gestellt und als Identifikationsfiguren für ihre Söhne
entwertet. In der Familie eines Patienten hatte der kriegstraumatisierte
Vater scheinbar nichts dagegen, daß die Mutter ihre Liebhaber
im gemeinsamen Haushalt bekochte. Der Vater eines anderen Patienten
dichtete einen Knittelvers: "Ist die Mutter sauer / stirbt der
stärkste Bauer / Typhus, Pest und Cholera / sind dagegen Tralala."
Das Verschwinden der väterlich-strukturierenden Elemente aus den
Familien erschwert die Entwicklung von Autonomie und Aggressionsverarbeitung
bei den Söhnen. Sie bleiben unselbständig und neigen dazu,
narzißtische Stabilität in einer ambivalent erlebten Anlehnung
an idealisierte Bezugspersonen zu suchen, die eher mütterliche
als väterliche Qualitäten haben.
Die prägenden Einflüsse auf die Kinder lassen sich unter
dem Aspekt einer gesteigerten narzißtischen Bedürftigkeit
der Eltern zusammenfassen. Die nationale Kränkung und die intensive
Scham über das, was die eigene Generation angerichtet hatte, führten
zu einer Überforderung der Möglichkeiten, die Einbußen
an persönlicher und nationaler Geltung abzutrauern. Eine Folge
für die Kinder ist ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis,
um die labile narzißtische Versorgung durch die Eltern auszugleichen.
Nationalsozialismus und Faschismus eignet wie allen fanatischen Weltanschauungen
ein Mangel an Humor, an Selbstdistanz und an der Fähigkeit, die
eigene Eitelkeit (und damit die eigene Kränkung) selbstkritisch
zu brechen. Dieser Mangel belastet die Kinder der traumatisierten Vätern
bzw. Müttern oft doppelt: einerseits neigen humorlose Menschen
besonders dem Fanatismus zu; anderseits erschwert der Mangel an Humor
die angemessene Verarbeitung des Traumas. Eltern, die über ihr
eigenes Leben mit Humor sprechen können über ihre Schulprobleme,
ihre eigenen Schwierigkeiten mit ihren Eltern, mit Sexualität usw.-
bewahren ihre Kinder in der Regel davon, sich für die Probleme
der Eltern schuldig zu fühlen bzw. ich-einschränkende Abwehrformationen
gegen dieses Schuldgefühl aufzubauen. Je stärker aber die
Traumatisierungen und die Schuldgefühle bei den Eltern sind, desto
weniger ist eine solche Perspektive möglich. Ein zentraler Beitrag
der psychoanalytischen Therapie liegt darin, sie zurückzugewinnen.
Literatur
SCHMIDBAUER W., Ich wusste nie, was mit Vater ist Das Trauma
des Krieges, Rowohlt 1998
b) Checkpoints, Eskorten und die Lust auf Wiederkehr
Warum ich gerne noch einmal in ein "unsicheres Land" reisen
möchte
Wolfgang Schmidbauer
Wenn ich von der Stimmung des Reisenden in einem der "unsicheren
Länder" erzähle, fällt mir immer die Szene ein,
in der ich nach dem Sicherheitsgurt suchte und eine Kalaschnikov fand.
Es war am zweiten Tag unserer Rundfahrt durch den Jemen. Wir sollten
die Wüste sehen, Schabwa, das alte Saba, die Trockentäler
von Hadramaut und die aus Lehmziegeln erbauten Wolkenkratzer von Schibam.
Zu einer solchen Wüstentour gehört ein Beduinenführer,
ein Stammesangehöriger als Begleitschutz, der zweihundert Dollar
erhält, um den Landcruiser mit den vier Touristen sicher durch
das Gebiet von Stämmen zu bringen, die überzeugt sind, dass
alles ihnen gehört, was sich in ihrem Gebiet bewegt. Wer von aussen
kommt, nennt solche Beduinen Diebe und Räuber; wer dem Stamm angehört,
findet es selbstverständlich, alle Ressourcen zu nutzen. Wie soll
man sonst in der Wüste überleben?
Dieser Beduine lud mich ein, mit ihm zu fahren; so liess ich Ahmed,
unseren englischsprechenden Reiseleiter und den Rest der kleinen Gruppe
in dem Landcruiser zurück und setzte mich zu ihm. Auf einer Schotterebene
schaltete er und streckte triumphierend fünf Finger hoch - er fuhr
im fünften Gang. Bei solchen Geschwindigkeiten auf unsicherem Grund
sollte man sich anschnallen. Tatsächlich hing neben mir ein Sicherheitsgurt.
Aber als ich auf der anderen Seite das Gurtschloss suchte, war es nicht
zu finden: Zwischen den Sitzen stand eine wohlpolierte Maschinenpistole,
von der sich unserer Wüstenbegleiter niemals trennte. Als wir später
zu einem Frühstück in den Ruinen von Schabwa ausstiegen, trug
er sie über der Schulter.
Von Checkpiont zu Checkpoint
Wir sind um acht Uhr aufgebrochen und haben die Hauptstadt Sanaa in
Richtung Norden verlassen, durch eine dürre Hochebene, die von
roten Hügeln begrenzt ist. Schon am ersten Polizeiposten geht es
nicht weiter. Ahmed zuckt mit den Achseln. Es wird bis neun Uhr dauern,
wir sollen in einer bewachten Kolonne fahren, eines der Fahrzeuge ist
noch nicht da. Es wird heiss, vor uns, im Schatten einer Bude, duckt
eine Schar von sechs winzigen Mädchen die Strubbelköpfe zusammen,
während ein Junge, nicht grösser als sie, mit einer Stahlrute
(die ihren Ursprung aus einem Drahtkleiderbügel nicht verleugnen
kann) die kleine Herde bewacht und jedes Köpfchen, das zu hoch
ragt, mit einem sanften Schlag zurückstupst.
Überall an diesem Checkpoint an der Hauptstrasse nach Norden stehen
Bewaffnete in Tarnuniformen; gelbschwarze und blaubunte fallen neben
dem vertrauten Khaki auf. Endlich treffen zwei Edel-Geländewägen
ein, ein Polizei-Pickup mit einem Maschinengewehr fährt voraus.
Beim nächsten Kontrollpunkt verlieren wir die Eskorte. Dann kommen
zwei Stops, wo nicht Militär, sondern bewaffnete Beduinen Ahmeds
Ausweis sehen wollen. Er erklärt uns, dass es eine Fehde gibt und
die Angehörigen des gegnerischen Stammes nicht passieren dürfen.
"The Government is weak", setzt er hinzu, scheint aber nichts
besonders dabei zu finden. Ich stelle mir vor, dass zwischen Augsburg
und München alle Autofahrer von bewaffneten Oberbayern mit geladenen
Stutzen kontrolliert werden, weil keine Schwaben mehr einreisen dürfen,
nachdem sie einen oberbayerischen Reisebus beschlagnahmt haben und jetzt
von München Lösegeld für die Insassen erpressen wollen.
Um uns kümmert sich der Kontrolleur nicht, aber Ahmed muss aussteigen
und aus einem verschlossenen Koffer einige Papier holen. An den Strassenrändern
zahlreiche Bewaffnete, die in kleinen Grüppchen stehen und plaudern.
Die Strasse klettert über ein Gebirge und fällt dann in vielen
Serpentinen zur Hochebene von Marib. Am nächsten Posten werden
wir wieder von der Strasse gewinkt. Jetzt ist Ahmed sichtlich verärgert,
er bringt uns zu einer der Zementstein-Wellblech-Hütten abseits
der Strasse, zu der wir auf einem Teppich flachgequetscher Coladosen
gehen. Dort soll es Tee geben. Wir bleiben auf der Veranda und behalten
die Schuhe an. Aus dem Augenwinkel sehe ich hinter einer Glastür
Teppiche, auf denen säuberlich gereiht polierte Kalaschnikovs liegen,
hinter ihnen auf Polstern, das Mundstück der Wasserpfeife im Mund,
ihre bärtigen Besitzer. Ein Zwölfjähriger in einem zerrissenen
Kaftan, die Maschinenpistole über der Schulter, den Dolch im Gürtel,
will uns eine "Ausgrabung" verkaufen, einen geschnitzen Stein,
der die Mond- und Muttergöttin von Saba darstellt. Ich bin doch
froh, dass ich ihm meine Ablehnung seines Angebots nicht allein in der
Wüste mitteilen muss.
Schliesslich geht es weiter. Der Sitz neben dem Fahrer bietet die beste
Aussicht, hat aber im Jemen auch gewisse Nachteile. Neben mich quetscht
sich ein schmächtiger junger Mann mit energischem Kinn und der
üblichen Schusswaffe, die er zwischen seine Beine stellt und deren
Mündung er liebevoll mit einem Daumen verschliesst, vielleicht
gegen eindringenden Staub. Er isst mit uns in einem Fernfahrerlokal
und verlässt uns erst, als wir in dem Viersternehotel Bilquis Marib
angekommen sind. Dort setzt er sich zu einer Gruppe Bewaffneter, die
das Tor der Einfahrt hüten. Wir sollen duschen, uns etwas ausruhen,
um vier Uhr, wenn es nicht mehr so heiss ist, fährt uns Ahmed zu
den Resten des riesigen Staudamms und zu den legendenumwobenen Tempelruinen,
die erst im vergangenen Jahrhundert entdeckt wurden.
Das neu erbaute, um einen Innenhof mit Swimmingpool gruppierte Hotel
Bilquis Marib (Bilquis ist der arabische Name der Königen von Saba)
hat die Gestalt einer osmanischen Festung und liegt auf einem Hügel
über Neu-Marib mitten in den Feldern, die mit Hilfe eines Staudamms
bewässert werden. Dieser Damm wirkt wie ein Zwerg gegenüber
seinem antiken, ganz ohne Maschinenhilfe gebauten Urahn; er liegt weit
bergwärts, in einer Engstelle des Tals. Angesichts der gigantischen
Masse des Erddamms und des im Dunst flimmernden Wasserspiegels fällt
es schwer, sich vorzustellen, daß der alte Damm von Marib noch
erheblich länger war. Von ihm sind nur die aus behauenen Steinen
wie Wachttürme gefertigen Anlagen zur Verteilung des Wassers erhalten;
der Lehmwall zwischen ihnen ist zerfallen, in die Ebene geschwemmt.
In einer schattigen Nische über dem Wasserspiegel des neuen Staudamms
liegen zehn Männer gemütlich mit Wasserflaschen. Sie kauen
Kat, ein mildes Betäubungsmittel, das von rund 80 Prozent der jemenitischen
Männer konsumiert wird.
Während Ahmed beim Landcruiser bleibt, begleitet uns der Leibwächter
zu den Ruinen. Ohne uns aus den Augen zu lassen, plaudert er mit einigen
Beduinen, die "Ausgrabungen" und Gipskristalle verkaufen;
einer davon ist unermüdlich dabei, ein Steinsiegel mit feinem Sand
zu füllen und zu zeigen, wie dieser dann auf seiner Handfläche
Buchstaben in sabäischer Schrift formt. Ein kleiner Junge bettelt;
plötzlich wirft er sich zu Boden und weint laut. Es fliessen keine
Tränen, er hilft mit Spucke nach, die er sich flink unter die Augen
reibt. Wir haben uns entschieden, Bettlern nichts zu geben, um die Belästigung
der Reisenden nicht zu fördern. Mir fällt es nicht leicht,
diesem Entschluss treu zu bleiben. Ich habe es auch nicht durchweg getan.
Beim Abendessen im Hotel fallen uns einige Einschusslöcher in
den Glastüren des Restaurants auf. Die Nacht ist unruhig, Moskitos
singen, der Dieselgenerator für den Strom brummt.
Wüstenfahrt
Die Landschaft ist reich, mit vielfältigen Formen von Steinen,
Geröll und Sand, aber die rasche Fahrt gibt ihr die Qualität
einer Filmszene. Schliesslich wird die Vegetation in unmerklichen Schritten
dichter, in der Ferne erkenne ich die eine und andere Kamelsilouette,
schliesslich zeigen Würfelhäuser und Zelte Beduinensiedlungen
an. Die weit gefächerte Piste, deren Spuren sich oft mehrere hundert
Meter breit über die Sand- und Schotterfelder ziehen und deren
Grenzen gelegentlich durch in den Sand eingelassene Autoreifen markiert
sind, verengt sich zu einer einzigen Spur zwischen Büschen und
schliesslich Bäumen. Dann löst ein Meer von Kieseln das Sandmeer
ab, wenig später tauchen die Ruinen einer Lehmstadt auf. Wir haben
Schabwa erreicht, das erst in diesem Jahrhundert von europäischen
Forschern besucht wurde. Auf jeder Ruine steht ein Bewaffneter; wir
erfahren, dass der französische Botschafter mit Eskorte Ausgrabungen
seiner Landsleute besucht.
Wir fahren weiter durch die Mittagshitze, zu einer Siedlung aus dürftigen
Hütten und Stockverschlägen, in denen junge Kamele an vorgestreutem
Grün knabbern. Unser Beduinenführer fährt einen merkwürdig
krummen Weg, als gäbe es unsichtbare Vorgaben. Schliesslich hält
er an dem einzigen grösseren Gebäude, zieht den Zündschlüssel
ab, sperrt das Handschuhfach auf, nimmt zu meinem grossen Staunen zwei
brikettgrosse Packen Geldscheine heraus und verschwindet mit ihnen in
dem Gebäude. Das Geld hat er wohl seinem Scheich gegeben, einem
greisen Mann in weissem Turban, mit dem er aus dem Gebäude tritt
und sich zärtlich verabschiedet. Es ist einheimisches Geld in kleinen
Scheinen, vermutlich ein Teil der Dollarsumme, welche die beduinische
Begleitung und Bewachung kostet. Wer sie nicht beansprucht, riskiert
den Verlust seines Autos.
Alles ist Beute, was sich im Stammesgebiet bewegt. Unser Führer
hat uns in Besitz genommen und würde uns gegen jeden Stammesangehörigen
verteidigen, der ihn nicht respektiert. Ich empfinde eine merkwürdig
innige Beziehung zu dem Mann neben mir, der den Staub aus seinen Musikkasetten
klopft und einen frommen Singsang nach dem anderen spielt, mich dazwischen
angrinst, bei einer Kamelmutter samt Jungem hält, um mich fotografieren
zu lassen. Ich denke daran, ihm mein Fernglas zu schenken, helfe ihm
mit Kopfschmerztabletten, wir erklären uns in Zeichensprache Zahl
und Alter unserer Kinder. Er sieht aus wie knapp dreissig, hat aber
vier Söhne, der älteste ist zehn Jahre alt, der kleinste drei.
Ich umarme ihn zum Abschied, ein Bündel aus Sehnen, Knochen und
Muskeln unter den weiten Gewändern der Wüste.
Am Abend erzählt Ahmed von einer Entführung. Sie hing damit
zusammen, dass die Beduinen von Marib nicht gewöhnt sind, ihre
Autos zu versteuern. Sie fahren ohne Nummernschild. Als einige in Sanaa
einkaufen wollten, liess sie ein eifriger Polizeikommandant einsperren,
um sie zu zwingen, die Gebühren für ihre Fahrzeuge zu bezahlen.
Daraufhin entführten die Beduinen eine Gruppe von Touristen und
liessen sie erst frei, als ihre Stammesbrüder mit ihren Autos zurück
in die Wüste fahren durften. "Some are crazy people. The government
is weak." Mehr als soche knappen Kommentare hat sich Ahmed nie
über die politische Situation in seinem Land entlocken lassen.
Es ist wie in der deutschen Nachkriegszeit. Die Wunden des Bürgerkriegs
sind noch nicht vernarbt.
Polizeisperren und Eskorte werden dem Reisenden im Jemen schnell selbstverständlich.
Wenn wir uns eigentlich immer sicher gefühlt haben, liegt das auch
daran, dass wir das Land nicht auf eigene Faust, sondern unter dem Schutz
eines einheimischen Führers und der Organisation des sorgfältigen
Leiters der Cameleers Tours bereist haben. Ahmed war unser Vater und
unsere Mutter. Er sah jeden der tückischen Zementbuckel auf der
Strasse, mit denen im Jemen die Geschwindgkeit der Automobile bei Gefahr
des Achsenbruchs auf Schrittgeschwindigkeit heruntergeregelt wird. Er
hatte ein Bündel fotokopierter Blätter mit genauen Angaben
über unsere Namen und Passdaten, die er an den Checkpoints abgab,
wodurch uns das zeitraubende Ausfällen von Formularen erspart wurde:
Je weniger entwickelt ein Land, desto umständlicher seine Bürokratie.
Er war selbst Soldat gewesen und wusste, wo er sich fügen, wo er
sich durch autoritäres Auftreten durchsetzen konnte. Er ging mit
uns in arabische Lokale, die wir von aussen gar nicht als Orte erkannt
hätten, in denen es Geniessbares gab, hielt an Plätzen mit
schöner Aussicht für die Fotografen und an Orten mit Verstecken
aus Fels oder Baum für die Pinkelpause - eines der wenigen deutschen
Worte, die er beherrschte.
Ein Venedig des Staubes
So ergibt die Bilanz der Reise eine merkwürdige Mischung von Verunsicherung
und Beruhigung, vor dem Hintergrund der unleugbaren Tatsache, dass Landschaft,
Architektur und Menschen im Jemen nicht nur äusserst schön,
sondern - wie man es in Europa von Venedig gesagt hat - auch fast frei
von Hässlichem sind. So wünsche ich mich oft in den Jemen
zurück. In der Toscana, in Sizilien oder Andalusien gibt es wunderschöne
Plätze, aber wer sie besucht, fährt weite Strecken durch zersiedelte
Landschaft und muss sich, einmal an einem schönen Ort angekommen,
mit der Suche nach einem Parkplatz quälen. Und da er sich frei
bewegen kann und sich einbilden darf, auch ohne Sprachkentnisse und
Dolmetscher mit den Eingeborenen geschickt umzugehen, erblühen
in einer einzigen Provinz der Touristengebiete des europäischen
Südens mehr Betrüger, Diebe und Räuber, als im ganzen
Jemen, wo landeskundige Führung die sittenstreng geregelten Umgangsformen
mit dem Fremden durchaus harmonisch gestalten kann, auch wenn das Land
noch viele mittelalterliche Züge besitzt.
Unsere psychologische Risikoeinschätzung ist nicht realistisch,
sie orientiert sich am Besondern, am Spektakulären. Daher erleben
wir Flugreisen viel gefährlicher als Autofahrten und denken bei
einer Reise in den Jemen mehr an das Risiko einer Entführung (seit
1992 wurden rund sechzig Fälle bekannt; fast alle gingen gütlich
aus), als an Krankheiten oder Verkehrsunfälle, die sicher mehr
Touristen gefährlich werden. Statistisch gesehen, ist die Reise
in eines der milden Risikogebiete, wie den Jemen, Ägypten oder
die Türkei wohl nicht gefährlicher als die Autofahrt zum Urlaub
in der Toscana oder in der Lüneburger Heide. Aber eine Entführungsmeldung
genügt, und die Reiseunternehmer in den betreffenden Ländern
zittern.
Im Jemen sind die Strassen der alten Städte noch Staub. Kinder
spielen darin, Esel und Ziegen spazieren darüber, die Grenz- und
Trennschicht zwischen dem städtischen Ich und dem Mutterboden ist
nicht so entwickelt wie in meiner Heimat. Der Strassenstaub frisst den
organischen Abfall. Im Gegensatz zu früheren Reisen hatte ich diesmal
keine Probleme mit dem allgegenwärtigen Müll. Ich fügte
mich der Sitte, Dinge wegzuwerfen, die ich nicht mehr brauchte, und
entdeckte, wie bequem es ist, beim Picknick im Hotelzimmer ein Handtuch
auf den Boden zu legen, Brot, Obst und Yoghurt darauf auszubreiten und
halb liegend zu essen. In Sanaa gibt es eine Müllabfuhr, wir werfen
unsere Abfälle in einen der Behälter. Ab und zu kommt eine
Hirtin, den Strohhut über dem schwarzen Schleier. Sie führt
eine Ziegenherde, reisst die Plastiktüten heraus und schüttet
den Inhalt ihren Tieren hin, die vor allem die Kath-Reste herauspicken,
Blätter und Stengel, die für die Menschen nicht mehr zart
genug sind. Auch Papier scheint diesen Grossstadtziegen zu schmecken.
Wer sich dem Lebensstandard hier anpasst, muss nicht hungern, nicht
dursten und nicht frieren, wenn er am Tag zehn Mark ausgibt. Gemessen
an den Armen ist er reich, gemessen an den Reichen arm - er ist sicher
reicher als die meisten Menschen hier. Diese Situation ergibt ein Gefühl
der Leichtigkeit; ich hatte nach der Rückkehr einige Wochen lang
Mühe, Klagen meiner Kollegen über sinkende Honorare ernst
zu nehmen, durch die ihr Tagesverdienst auf das jemenitische Jahres-Durchschnittsseinkommens
zu sinken drohte. Aus dieser Leichtigkeit wächst auch ein Gefühl
der Angst, es ist, als ob das eigene Leben weniger wert ist und flüchtiger
wird, hinweggeweht werden kann wie eine Plastiktüte von der Sandhexe.
Diese Empfindungen hängen sicher mit der touristischen Existenz
zusammen, sie würden sich vielleicht ändern, wenn man hier
ein Haus kauft und die Sprache erlernt. Aber diese Sesshaftigkeit würde
zu neuen Grenzen führen, zur Auseinandersetzung mit der strikten
Religiosität, mit der mangelnden Rechtssicherheit. In der Toscana
konnte ich in fast dreissig Jahren Aufenthalt den Graben zu den Einheimischen
keineswegs einebnen. Ich weiss heute nur ziemlich genau, wie tief und
wie breit er ist.
Abschied vom Jemen
In einem Teeausschnak an der Dawud-Moschee, vor einem Ruinengelände,
das mit Wellblech eingezäunt ist, sitzen die alten Männer
mit ihren Gläsern und studieren hingebungsvoll ein Faltblatt mit
einem religiösen Text. Sie tragen Dolch, Rock und Turban. Abseits,
vor dem Wellblech, eine Gruppe junger Männer in bedruckten T-Shirts
und Jeans. Sie diskutieren über das arabische MTV, die Musikvideos,
die via Satellit auf jedem Bildschirm hier flimmern. Im Staub sammelt
ein fünfjähriger Junge mit blossen Händen frischen Dung
auf ein Stück Plastikfolie. An der Ecke eine Gruppe etwas älterer
Kinder, die Steinewerfen üben - auf die beiden Touristen, die eben
ihr Revier durchqueren. Ein Mann mittleren Alters weist sie zurecht,
sie lassen die Steine fallen.
Hier wird sich vieles schnell verändern. Ich empfinde diese Veränderung
als schmerzlich und freue mich doch schamhaft, weil ich diese Welt noch
vor ihr kennengelernt habe. Das Mittelalter trifft binnen einer Generation
auf die Moderne, der Strassenstaub auf den Zement, der Dolch auf die
Kalaschnikov, die schwächliche Zentralmacht auf die Universalität
der Medien. Noch ehe das Gewaltmonopol des Staates und die Aufklärung
ihre Wirkungen entfalten können, wächst um die verfallenden
Mauern der mittelalterlichen Zentren die Konsumgesellschaft. Unter ihrem
Diktat schlägt die authentische Szene der Krummdolchträger
und des Marktgewühls jäh in die Kulisse eines Hollywoodfilms
über einen Stoff aus 1001 Nacht um, in dem jeder Tourist sein eigenes
Video gestaltet. Kinder, die dem Fremden sukra, sukra (Foto, Foto) zurufen,
sind in die Zukunft geflohen.
Der Autor und Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer lebt in München
und in der Toscana; über seinen Aufenthalt dort hat er auch ein
Buch geschrieben: "Ein Haus in der Toscana. Reisen in ein verlorenes
Land."
Dezember 2000
Dr. Wolfgang Schmidbauer
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